Dienstag, 26. Mai 2015

Ein "Deja-vu"

Im Jahre 1914 fand in St.Petersburg eine Partie statt, die in die Schachgeschichte eingehen sollte. Der junge Capablanca rang mit dem schon etwas in die Jahre gekommenen Weltmeister Lasker um den Turniersieg:

                                     Lasker - Capablanca

1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 a6 4. Lxc6 dxc6 5. d4 exd4 6. Dxd4 Dxd4 7. Sxd4


Es ist eine typische Stellung aus der spanischen Abtauschvariante auf`s Brett gekommen. Weiß hat im Zentrum einen Mehrbauern, Schwarz das Läuferpaar und die halboffene e-Linie

7. … Ld6

Dies gilt als „veraltet“. Man bevorzugt heutzutage den Aufbau 7. …. Ld7+ 8. 0-0-0

8. Sc3 Se7 9. 0-0 0-0 10. f4 Te8 11. Sb3 ( droht e5 mit Figurengewinn) f6


Bislang ist noch nicht wirklich Aufregendes passiert, aber nun trifft Weiß eine strategisch weitreichende Entscheidung

12. f5

Der Sinn dieses Zuges leuchtet schnell ein. Der Lc8 soll in seiner Beweglichkeit eingeschränkt und der Lc1 zum Abtausch nach f4 gebracht werden.

Der Nachteil des Zuges ist ebenso offensichtlich. Der mobile Zentrumsbauer auf e4 wird zu einem rückständigen Bauern. Zudem geht das Feld e5 in den schwarzen Besitz über, ideal für ein Springer als Vorposten.

12. … b6 13. Lf4 Lb7?!

Dies ist eine Ungenauigkeit, die dem Weißen nun erlaubt die Initiative zu übernehmen. Richtig wäre hier 13. … Lxf4 14. Txf4 c5! (schränkt den Sb3 ein) 15 Td1 Lb7! gewesen



Es zeigt sich, dass hier Td7 nicht viel gebracht hätte. Eine Beispielvariante: 16. Td7 Tac8 17. Tf1 Sc6 18. Sd5 Se5 19. Txc7 Lxd5 20. Txc8 Txc8 21. exd5 Td8 22. Td1 Sc4


Schwarz gewinnt auf jeden Fall den Bauern zurück und bekäme die Initiative


14. Lxd6! Cxd6 15. Sd4!

Diesen Springer galt es unbedingt -wie gesehen – mit c5 abzusperren. Nun wird er sich sehr wirkungsvoll auf e6 postieren

15. … Tad8 Se6 Td7 Tad1 Se8

Das ist zu passiv. Schwarz sollte hier unbedingt nach Gegenspiel suchen. Zum Beispiel mittels 17. … c5 könnte man den rückständigen Bauern auf e4 angreifen. Nach 18. Sd5 Lxd5 19. exd5 b5!

wäre die d-Linie verschlossen und man könnte den Springer via c8-b6-c4 (d7) auf sein Traumfeld e5 überführen
18. Tf2 b5 19. Tfd2 Tde7 20. b4!


Nachdem Schwarz seine Chancen auf ein aktives Gegenspiel versäumt hatte, hatte Weiß nun einen dauerhaften Vorteil. Aber der Druck in der d-Linie und der Vorpostenspringer auf e6 reichen noch nicht ganz aus. Es musste erst noch eine weitere Schwäche am Königsflügel geschaffen werden
20. … Kf7 21. a3 La8 22. Kf2 Ta7 23. g4 h6 24. Td3 a5 25. h4 axb4 26. axb4 
Auf der Suche nach etwas Gegenspiel hatte Schwarz die a-Linie geöffnet, verlor aber mangels Möglichkeiten auch gleich wieder das Interesse an ihr

26. … Tae7 27. Kf3 Tg8 28. Kf4 g6 29. Tg3 g5+ 30. Kf3 Sb6 31. hxg5 hxg5 32. Th3


Mit der Öffnung und Besetzung der h-Linie hat Weiß sein Ziel erreicht und eine neue Schwäche geschaffen. Oder man könnte auch sagen, dass er seine Operationsbasis erweitert hat

32. … Td7 33. Kg3 Ke8 34. Tdh1 Lb7


   
Noch immer scheint die schwarze Stellung verteidigungsfähig. Aber nun holte Weiß zum entscheidenden Schlag aus. Frei nach dem Motto: Welche meiner Figuren beteiligt sich eigentlich noch nicht richtig am Angriff?

35. e5!!

Ein solches Bauernopfer sollte nicht „weh“ tun. Der Bauer war eh nicht viel wert und dafür bekam Weiß ein glänzendes Feld für seinen zweiten Springer

35. … dxe5

Die Alternative 35. … c5 funktioniert hier nicht richtig. 36. Th8! Lxh1 37. Txg8+ Ke7 (Kf7?? 38. Tf8+ Ke7 39. exf6 matt) 38. exd6 Txd6 39. Sxb5 Td7 40. Sbc7+ +-

36. Se4! Sd5

Hier steht der schwarze Springer zwar gut, aber ist ohne Unterstützung durch die anderen Figuren

37. S6c5! Lc8 38. Sxd7 Lxd7

Materiell steht es noch halbwegs ausgeglichen, aber die weißen Figuren sind einfach zu aktiv

39. Th7 Tf8 40. Ta1!

Nun kommt Weiß sogar noch die Öffnung der a-Linie zugute

40. … Kd8 41. Ta8+ Lc8 42. Sc5


Gegen die zahlreichen Drohungen war kein Kraut mehr gewachsen, deshalb gab Capablanca hier auf

                                               1-0

Eigentlich könnte man hier ja den Artikel beenden, aber es gibt eine eine erstaunliche Parallele zu der obigen Partie – knapp hundert Jahre später gespielt:


Aronian-Andrejkin (2015)



Die Stellung ähnelt in gewisser Weise dem Diagramm nach Zug 34 in der Lasker-Partie. Und genau wie dort ist auch der (Feld-)Räumungszug

30. e5!!

die Lösung! Der an sich wertlose Bauer wird geopfert um ein phantastisches Springerfeld zu bekommen. Und so ganz nebenbei wird auch noch etwas für den Lc2 getan

30. … fxe5

Erzwungen, da 30. … dxe5 31. Td8+ den Sc8 gewinnen würde
31. f6! Tgf7 32. Se4!


Das Ergebnis des Bauernopfers kann sich sehen lassen

32. …. d5

Auch 32. …Tbd7 33. Ld1! Sb6 34. Lg4 wäre klar vorteilhaft für Weiß

33. Sc5 Sd6 ( 33. … Tb4 34. Txg5! +-) 34. Txg5 Txf6 35. Sxb7 Sxb7 36. Txe5 Sd6 


Weiß hat sein geopfertes Material mit Zinsen zurückbekommen. Die „Qualität“ im Endpiel erwies sich eine solide Basis für den späteren Gewinn

Ein drittes und letztes Beispiel stammt aus den sechziger Jahren:


                                 Spasski-Petrosian (1969)



Die Überlegenheit der weißen Stellung ist offenkundig. Für seinen geopferten Bauern hat er einen supergefährlichen Königsangriff erhalten. Es „riecht“ geradezu nach einer entscheidenden Aktion

21. e5!!

Die gleiche Idee wie in den vorherigen Beispielen. Wieder soll der bislang inaktive Springer über e4 in den Angriff gebracht werden

21. … dxe5 22. Se4

droht einfach 23. Txf6 gxf6 24. Dg8 #

22. … Sh5 (22. … Sxe4?? 23. Txf8 nebst Matt im nächsten Zug) 23. Dg6! exd4


23. Sg5!!

Der ins Spiel gebrachte Springer bringt die Entscheidung. Schwarz gab Schwarz auf ohne sich 23. ... hxg5 24. Dxh5+ Kg8 25. Df7+ Kh8 26. Tf3! g4 27. Txg4 mit Matt im nächsten Zug noch zeigen zu lassen

Zusammenfassend kann man sagen, dass in allen drei Beispielen mittels eines Bauernopfers e5 im richtigen Moment das Feld e4 für einen bislang inaktiven Springer räumte.

Diese „Mehrfigur“ schuf dann ein Übergewicht, was in der Folge zu klarem Vorteil oder Gewinn führte.

Merke: Eine Aktivierung einer Figur kann manchmal wichtiger sein als das Festhalten am materiellen Gleichgewicht




Freitag, 1. Mai 2015

Ein Qulitätsopfer für bewegliche Bauern

Eine Grundregel lautet: „Wenn man etwas gibt, muss man auch etwas dafür erhalten“ (Stichwort Kompensation)


                         Spassky-Petrosjan

(1966)


Schwarz schielt mit drei Figuren in Richtung g2. Der Bauernvorstoß d4 verbunden mit einem Einschlag auf g2 liegt in der Luft. Dummerweise ist aber der Tg4 angegriffen. Was also tun? Den Turm zurückziehen um das Angriffsmotiv auf g2 aufrechtzuerhalten? Petrosjan entschied sich für einen anderen Weg

24. … Sxe5!

Ein Qualitätsopfer!

25. Sxg4 hxg4

Damit ist der Traum vom Einschlag auf g2 begraben

26. e4 Ld6!

Natürlich nicht 26. dxe4? 27. Lxe5 Dxe5 28. Dd8#

27. De3 



27. … Sd7!

Objektiv nicht das Stärkste. Das Schachprogramm Rybka gibt hier dxe4 ( mit gewinnbringendem Vorteil) und g3 (mit klarem Vorteil) an. Beide Varianten weisen aber eine gewisse taktische Komplexität auf.

Mir gefällt, dass Petrosjan hier eine stratgische und recht unkomplizierte Abwicklung wählte, die aber gerade durch ihre einfache Logik besticht

28. Lxd6 Dxd6 29. Td4 e5 30. Td2



Spätestens an dieser Stelle wird sich mancher fragen, was Schwarz denn eigentlich für die gegebene Qualität erhalten hat. Okay, zwei Bauern. Aber reicht das für einen Vorteil?

30. … f5!!

Ein Hammerzug, der offenbar macht wie schlecht die weißen Aktien eigentlich stehen

31. exd5

Halten wir einen Moment inne und beschäftigen wir uns kurz mit exf5
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31. exf5 Sf6! 

 
In dieser Variante hätte Schwarz als Kompensation für die Qualität ein bewegliches Bauernzentrum (+Mehrbauern) erhalten. Der gelegentliche Vorstoß d4 zwecks Freilegung des Lb7 in Verbindung mit h3 liegt in der Luft
Das verlockende 32. Dh6 würde mit dem brillianten … Se4!! 33. Dxd6 Sxf2+ 34. Kh2 g3# beantwortet.
Und 32. f3 Sh5! 33. fxg4 Sg3+ 34. Kh2 d4! hätte auch keinen Spaß gemacht
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31. … f4 32. De4 

 
Die schwarze Bauernphalanx am Königsflügel läßt nicht Gutes erahnen. Weit und breit kein weißes Gegenspiel und schwarz beordert seine Figuren nun in Richtung weißer König

32. ...Sf6 33. Df5+ Kb8 34. f3

Andere Züge wären auch nicht viel besser gewesen

Lc8! 35. Db1 g3!

Ein „Sargnagel“ wird installiert



Von nun an liegt h3 mit Öffnung der h-Linie in der Luft

36. Te1 h3! 37. Lf1 Th8! 38. gxh3 Lxh3 39. Kg1 Lxf1 40. Kxf1



Kann sich der weiße König in Sicherheit bringen

40. … e4!

Der entscheidende Durchbruch! 41. fxe4 f3! mit Mattdrohung 42. Th1 verbietet sich augenscheinlich

41. Dd1 Sg4!!

41. Dd7 oder 41. De5 hätten hier auch gewonnen. Aber der wunderschöne Textzug demonstriert die schwarze Übermacht am Königsflügel

42. fxg4 f3



Welch eine Dominanz! Die weißen Figuren am Brettrand müssen hilflos zuschauen wie es nun dem König an den Kragen geht

43. Tg2 fxg2
Hier gab Weiß auf.

    44. Kxg2 Df4 45. Tf1 Th2+ 46. Kg2 De3+ wollte er sich dann doch nicht mehr zeigen lassen

0-1



Fazit: In der Ausgangstellung trennte sich Schwarz von der g2-Idee und opferte stattdessen die Qualität (Turm für Springer + zwei Bauern)

    Entscheidender als die materielle Kompensation dann der Vormarsch der eigenen Bauern. Sie schufen Raumvorteil und Angriffschancen und schränkten gleichzeitig die weißen Figuren in ihrer Wirkung ein. Es kam nicht einmal der Ansatz eines Gegenspiels auf.

     Die Partie ist mit einer so kristallklaren Logik gespielt, dass man fast davon ausgehen muss, dass Petrosjan zum Zeitpunkt des Qualitätsopfers schon das Schlussbild vage vorgeschwebt haben könnte.